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Nein, ich bin depressiv.
Der Wecker läutet und du kannst kaum deine Augen öffnen. Obwohl du genügend Schlaf hattest, bist du noch immer müde. Das Duschen erscheint dir ein solch grosser Kraftakt zu sein, dass du gerade wieder die Decke über deinen Kopf ziehst.
Was hinter solch einer Beschreibung steckt, kann vielfältig sein. Voreilige Schlüsse, dass dies einfach eine faule Person sei, können gravierende Konsequenzen mit sich bringen. Doch trotzdem begegnen wir Menschen immer wieder mit unseren Vorurteilen. Dieser Beitrag soll der Aufklärung über mögliche Symptome einer Depression und weiter auch der Entstigmatisierung psychischer Probleme dienen.
Antriebslosigkeit ist normal. Oder etwa nicht?
Jeder von uns kennt bestimmt die Tage, an denen man einfach nichts tun will. Man schläft lange aus und lässt sich eher vom Tag treiben, ohne gross etwas zu machen. (Bestimmt denkt sich keine Person dabei, dass sie gerade depressiv verstimmt ist.) Aber was ist, wenn die Mehrheit der Tage von einer Antriebslosigkeit und Müdigkeit geprägt sind? Was geschieht, wenn man als faul bezeichnet wird, jedoch eigentlich mit einer Depression zu kämpfen hat? Was lösen solche Vorurteile aus? Beginnt man an sich selbst zu zweifeln? Sieht man sich selbst als Nichtsnutz?
Die Antwort ist oftmals: Ja.
Die Stigmatisierung psychischer Störungen ist ein Problem, welches in den letzten Jahren, trotz Aufklärungsarbeiten nicht kleiner wurde (Schomerus & Angermeyer, 2011. S.350). Die Folgen davon sind jedoch keineswegs klein. Für Betroffene ist ein Stigma belastend und es wird auch als „zweite Krankheit“ bezeichnet, da die Konsequenzen weitreichend sind und nicht nur die Symptome der Depression beinhalten. Die Stigmatisierung verringert die Lebensqualität der Betroffenen und ruiniert soziale Netzwerke, da die Betroffenen mit Ausgrenzung und Abwertung konfrontiert sind. Darüber hinaus leidet das Selbstwertgefühl darunter (Schomerus & Angermeyer, 2011. S.345).
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Unterschieden wird bei der Stigmatisierung zwischen öffentlicher Stigmatisierung und Selbststigmatisierung (Schomerus & Angermeyer, 2011. S.346). Folgend werde ich spezifischer darauf eingehen. Da dieser Text einen Beitrag zur Entstigmatisierung bieten soll, ist es grundlegend und wichtig, sich bewusst zu sein in welchen Formen Stigmata in unserem Alltag auftreten. Nur so können wir handeln und etwas verändern und dies zum Wohl der Gesellschaft.
Öffentliches Stigma wirkt durch die soziale Umwelt der Betroffenen. Diese ist vielfältig, daher zählt darunter sowohl die Diskriminierung bei der Arbeit als auch allgemein im Bekanntenkreis und durch die Allgemeinbevölkerung. Auch abwertendes Verhalten von Experten, wie Therapeut*Innen und Ärzt*Innen fällt in diese Kategorie (Schomerus & Angermeyer, 2011. S.346).
„Einer depressiven Person vertraue ich mein Kind zur Aufsicht nicht an.“
Diese Aussage ist ein Beispiel für die individuelle Diskriminierung. Das ist eine von zwei Unterkategorien der öffentlichen Diskriminierung. Von dieser Form von Diskriminierung wird gesprochen, wenn individuelle Mitglieder der Mehrheit Mitglieder der Minderheit diskriminieren (Schomerus & Angermeyer, 2011. S.346).
Die strukturelle Diskriminierung ist die zweite Unterkategorie und diese betrifft Regeln, Gesetze und Abläufe. Hierbei befinden wir uns also auf einer höheren Ebene. Zur Veranschaulichung folgend zwei Beispiele.
Kommen wir zur Selbststigmatisierung. Diese Art von Stigmatisierung entsteht, weil wir alle Teil der Gesellschaft sind und entsprechend selbst Vorurteile und stereotypische Haltungen gegenüber psychisch Kranken haben können. Diese eigenen, internalisierten Vorurteile können bei einer eigenen psychischen Störung zu Selbststigmatisierung führen. Dies kann Schamgefühle hervorrufen, der Selbstwert und die Selbstwirksamkeit können darunter leiden und die Eigenkompetenz für den Umgang mit der eigenen Störung kann beeinträchtigt sein (Schomerus & Angermeyer, 2011. S.347).
Nach all diesen Erklärungen und Beispielen ist klar, dass die Stigmatisierung psychischer Krankheiten eine Problematik mit weitreichenden Konsequenzen darstellt. Wie kann man dem nun aber ein Ende setzen?
Die besten positiven Auswirkungen haben Initiativen mit und von Betroffenen. Durch den direkten Kontakt mit den Betroffenen sind sie authentisch und daher auch glaubwürdiger. Es ist davon auszugehen, dass der Kontakt zu psychisch belasteten Menschen und somit die Konfrontation mit ihnen als Individuen mit eigenen Lebensgeschichten die Ablehnung und Abgrenzung reduzieren. Die Öffentlichkeitsarbeit kann einen Beitrag zur Entstigmatisierung leisten, indem zum Beispiel Medienarbeit, kulturelle Veranstaltungen und Preisverleihungen gemacht werden. Weiter kann auch Zielgruppenarbeit eine Art von Anti-Stigma-Arbeit sein, indem beispielsweise mit Schüler*Innen, Polizist*Innen und Fachkräften des Gesundheitswesens gearbeitet wird. Natürlich ist die Arbeit mit den Betroffenen ein weiteres Kernelement. Durch Selbsthilfe oder Stigmacoping lernen die Betroffenen nicht nur mehr über das Thema und die Relevanz der Stigmatisierung psychischer Störungen, sondern sie erlernen auch den eigenen Umgang damit (Schomerus & Angermeyer, 2011. S.350-352).
„Geh ein wenig an die frische Luft, dann wird es dir gleich besser gehen.“
Was ein gut gemeinter Ratschlag sein sollte, kann die Vorurteile gegenüber depressiven Personen einmal wieder verstärken. Sicherlich tut uns allen ein Spaziergang an der frischen Luft gut. Aber dies nimmt sicherlich nicht das ganze Leiden einer Depression weg. Betroffene können sich durch solche Aussagen weniger verstanden und ernst genommen fühlen. Daher ist es wichtig zu wissen, dass eine Depression nicht nur ein Gefühl der Traurigkeit und Niedergeschlagenheit ist.
Weitere Symptome sind auf der motivationalen, kognitiven, verhaltensbezogenen und vegetativen Ebene zu finden. Daher reichen mögliche Anzeichen von Interessens- und Antriebsverlust zu Grübeln und Konzentrationsproblemen bis hin zu Rückzug, Appetit- und Libidoverlust. Das sind nur einige Beispiele von Symptomen und es ist wichtig zu verstehen, dass nicht jede Depression gleich ist. Der Schweregrad, wie auch die Symptome können sich individuell unterscheiden (De Vries & Petermann, 2019).
„Das sind schlechte Gewohnheiten und pure Faulheit.“
Nein absolut nicht. Eine Depression hängt nicht mit schlechten Gewohnheiten und Faulheit zusammen. Es ist eine psychische Störung, die durch multiple Ursachen bedingt ist. Diese Ursachen sind sowohl genetischer Herkunft, aber auch durch maladaptive Verarbeitung belastender Ereignisse geprägt (De Vries & Petermann, 2019).
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Bist du vielleicht eine Person von fünf?
Die Forschung zeigt, dass 20% der Gesellschaft mindestens einmal in ihrem Leben eine depressive Episode haben (De Vries & Petermann, 2019).
Die Wahrscheinlichkeit, dass genau du darunter fällst ist also 1:5. Ziemlich hohe Wahrscheinlichkeit, oder? Und stell dir jetzt vor, dein Umfeld begegnet dir mit Vorurteilen. Deine Freunde betiteln dich als faul oder als Simulant*In. Stell dir vor, du bist auf der Suche nach einem WG-Zimmer und bekommst es nicht, weil Personen dazu neigen psychisch Kranke auszugrenzen. Stell dir vor, du nimmst all deinen Mut zusammen und berichtest deinem Arzt/ deiner Ärztin über Symptome, wie ständige Müdigkeit und Appetitlosigkeit, aber er/sie nimmt dich nicht ernst. Ich glaube wir können uns alle vorstellen, wie viel schwieriger solche Situationen den Umgang mit den eigenen Problemen gestalten.
Machen wir nun einen Situationswechsel. Du bemerkst depressive Anzeichen an dir selbst und hast den Mut und die Kraft dich dem zu stellen. Du kannst mit deinem Umfeld offen darüber reden und alle begegnen dir verständnisvoll und wollen dich unterstützen. Von Expert*Innen wirst du ernst genommen und du bekommst die nötige Unterstützung. Was denkst du, wie viel leichter wird dir der Umgang damit fallen?
Wechseln wir ein letztes Mal die Situation. Dein Umfeld bemerkt deinen sozialen Rückzug, dein Interessensverlust und allgemein deine Niedergeschlagenheit. Sie kommen auf dich zu und teilen dir mit, dass sie in letzter Zeit Veränderungen wahrgenommen haben und nachfragen wollen, wie es dir geht. Das Thema mentale Gesundheit ist kein Tabu. Ihr könnt offen darüber sprechen und du fühlst dich nicht nur verstanden, sondern auch gesehen.
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Diese Situationen sollten nicht die Ausnahme, sondern die Regel darstellen. Es muss mehr Aufklärung über psychische Probleme geben und die Stigmatisierung muss ein Ende finden. Der Leidensdruck ist für Betroffene schon sonst hoch genug. Wir als Gesellschaft und als Angehörige sollten eine Stütze und nicht eine Hürde sein.
An dieser Stelle möchte ich die Wichtigkeit des Umfelds betonen. Wegzuschauen kann die schlimmste aller Folgen haben, den Tod. Denn 15% aller schwer depressiven Personen begehen Suizid und zwischen 40% und 70% der depressiven Personen haben suizidale Gedanken (IFightDepression, 2022). Ich denke, wie wichtig die richtige Hilfe und Unterstützung entsprechend ist, muss ich an dieser Stelle nicht erneut ausführen.
„Ich bin voll depri!“
Zuletzt möchte ich an dieser Stelle auf den Wortgebrauch hinweisen. Ich habe selbst die Erfahrung gemacht, dass Sätze wie „Ich bin voll depressiv“ umgangssprachlich benutzt werden. Gemeint ist dabei nicht eine tatsächliche depressive Störung, sondern eine momentane Gefühlslage. Manchmal sogar ironisch. Mit solchen Aussagen trägt man, meiner Meinung nach, aktiv zur Vorurteilsbildung bei. Personen, die tatsächlich von einer Depression betroffen sind, werden so abgewertet und die Depression verharmlost.
Es ist äusserst wichtig Anzeichen einer Depression ernst zu nehmen, sowohl seitens der Betroffenen aber vor allem auch seitens der Angehörigen. Oftmals haben die Betroffenen nicht die Kraft oder den Mut sich dem zu stellen, oder wollen es selbst nicht wahrhaben. Wir, als Individuen, können aber behutsam unsere Hilfe und Unterstützung anbieten. Als Gesellschaft müssen wir noch viele grosse Schritte machen, bis wir die Akzeptanz und die Hilfe gleichermassen für psychische Probleme erreichen, wie wir es für körperliche Krankheiten haben.
Aber lasst uns zuerst mit kleinen Schritten anfangen und deshalb frage ich dich: „Wie geht es dir?“
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Deborah Miggiano, Universität Zürich
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Literaturverzeichnis
Quelle Titelbild: Photo by Ashley Byrd on Unsplash
IFightDepression. (2022). Suizidrisiko einschätzen. https://ifightdepression.com/de/fuer-multiplikatoren/pfarrer-seelsorger/suizidrisiko-einschaetzen
Schomerus, G., & Angermeyer, M. C. (2011). Stigmatisierung psychisch Kranker. Psychiatrie und Psychotherapie up2date, 5, 345-35.