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Du stehst am Bahngleis und wartest bis dein Zug kommt. Er fährt in den Bahnhof ein, du steigst ein. Du schaust dich um und wählst einen Platz. Ist deine Platzwahl soeben völlig neutral von Statten gegangen? Ich wage zu behaupten, dass dem nicht so war. Deine Entscheidung neben welche Person du dich setzen wirst, war vermutlich schon von Stereotypen geprägt und geleitet worden. Du hast mehr oder weniger bewusst, die besetzten Plätze abgecheckt und eine Entscheidung darüber getroffen, neben welche Person du dich setzen wirst.
Sind Vorurteile erlernt oder angeboren? Weshalb gibt es sie? Und wie beeinflussen sie uns?
Bevor wir uns diesen Fragen widmen, ist es zunächst wichtig zu verstehen, was Vorurteile sind. Vorurteile nehmen Bezug auf eine Gruppe, beziehungsweise ihre Mitglieder. Dabei kommt eine Einstellung zum Ausdruck, welche die Betroffenen abwertet. Dies kann auf eine direkte, aber auch indirekte Art und Weise geschehen. Oft dienen Vorurteile dem Nutzen der eigenen Gruppe oder sie entfalten sich auf der Basis des Eigeninteresses (Jonas, Stroebe & Hewstone, 2014, S. 509). Eine klare Abgrenzung muss zu Stereotypen gemacht werden. Unter einem Stereotyp versteht man eine Sammlung von Wissen, Überzeugungen und Erwartungen über eine soziale Gruppe von Menschen. Man spricht auch von einer kognitiven Struktur (Jonas, Stroebe & Hewstone, 2014, S. 111).
Schweizer*innen sind immer pünktlich, Italiener*innen sind laut und Männer können nicht multitasken. Das sind typische Stereotypisierungen, wie wir sie alle kennen. Sobald eine negative Einstellung, beziehungsweise eine negative Bewertung ins Spiel kommt, landet man schnell bei den Vorurteilen. Wie weit ist es dann noch zur Diskriminierung?
Alles nur schlecht?
Stereotypen zu haben ist jedoch nicht negativ. Ganz im Gegenteil – Wir Menschen brauchen sie. Durch diese Kategorisierungen, die schnell und automatisch von statten gehen, wird unser Denken vereinfacht. Vor allem in unserer heutigen Welt, in der täglich sehr viele Reize auf uns einwirken, ist ein solches Schubladendenken von Vorteil. Die Informationsverarbeitung wäre ansonsten sehr komplex und würde viel Zeit und Kapazität beanspruchen. Unser Gehirn tut uns daher einen Gefallen, in dem es die vielen differenzierten Informationen aus unserer Umwelt sammelt und kategorisiert (SRF Einstein, 2017).
Die Rolle der Evolution
Im Laufe der Evolution entstand eine spezifische Rollenaufteilung für Mann und Frau. Die Rolle unserer männlichen Vorfahren war geprägt von Aufgaben wie zum Beispiel der Jagd. Die Rolle der Frau dominierte hingegen mehr in den sozialen Aspekten. Dementsprechend sind das, evolutionspsychologisch gesehen, die Ursachen von Stereotypen, die bereits bei kleinen Kindern beobachtbar sind (SRF Einstein, 2017). Schon nur wenn ich an die Kinder in meinem Umfeld denke, fallen schnell Stereotypen auf. Die Mädchen wollen ein rosa Zimmer und ganz viele Puppen zum Spielen. Die Jungs interessieren sich eher für Sportarten wie Fussball und haben in ihrem Zimmer spannende Spielzeugautos. Mir ist bewusst, dass diese Sicht (schon fast) veraltet ist. In unserer Zeit sind geschlechtsneutrale Farben und die Autonomie der Kinder sehr zentral. Und klar können Mädchen auch Fussball mögen und Jungs mit Puppen spielen. Anhand dieser Beispiele sollte nur aufgezeigt werden, dass Stereotypen durch die Evolution begründet sind.
Die Rolle der Erziehung und auch des Umfeldes im Allgemeinen spielt meiner Ansicht nach mindestens eine ebenso grosse Rolle. Stereotypen können durch die Erziehung verstärkt werden, wodurch eine (meist negativ) wertende Einstellung zum Ausdruck kommt. So entstehen dann aus Stereotypen schnell Vorurteile. Wie weit ist es dann noch zur Diskriminierung?
Aus genau diesem Grund ist es äusserst notwendig, dass wir unsere Meinungen, Einstellungen und dementsprechend die Stereotypen immer wieder in Frage stellen. Der Prozess der Schubladisierung entsteht meist unbewusst und aus diesem Grund sollten wir uns von Zeit zu Zeit reflektiv damit auseinandersetzen.
Einfach unterdrücken, dann passt es schon.
Eine Möglichkeit den Einfluss von Stereotypen und Vorurteilen zu reduzieren, kann die Unterdrückung sein. Durch Wegners Modell der ironischen Prozesse mentaler Kontrolle (1994) wurde eine paradoxe Konsequenz der Unterdrückung gefunden. Wenn die Unterdrückung nicht gelingt, wird der sogenannte Bumerang-Effekt aktiviert. Dabei kann sich nach einer misslungenen Unterdrückung die Stereotypisierung nicht nur wieder zeigen, sondern es kann durchaus einen noch grösseren Einfluss auf die Urteile nehmen (Jonas, Stroebe & Hewstone, 2014, S. 133-134). In mehreren Experimenten von Macrae et al. (1994) wurde der Bumerang-Effekt vorgefunden und dokumentiert.
Weshalb ist das so? Wegners Modell ironischer Prozesse bei der mentalen Kontrolle (1994) erklärt diesen Effekt. Wenn wir einen Gedanken unterdrücken wollen, laufen diverse kognitive Prozesse ab. Auf der einen Seite sucht der ironische Überwachungsprozess (IMP) automatisch, also ganz ohne Mühe, nach dem Auftreten der zu unterdrückenden Gedanken. Er überprüft ständig, ob es uns gelingt diese Gedanken zu unterdrücken. Durch diese mühelos ablaufende Überprüfung macht er jedoch genau diese Gedanken zugänglicher. Auf der anderen Seite gibt es den absichtlichen operativen Prozess (IOP), der versucht unter viel Aufwand Distraktoren zu liefern. Sobald der IMP bei der Überprüfung einen Gedanken entdeckt, welchen wir eigentlich unterdrücken wollen, setzt der IOP ein und sucht nach möglichen Gedanken, die uns wieder davon ablenken. Der IMP führt jedoch seinen Überwachungsprozess automatisch weiter und durch dieses ständige Priming werden die unerwünschten Gedanken immer zugänglicher. Dadurch wird der IOP dauernd davon abgehalten passende Distraktoren zu finden. Somit sind schlussendlich die ungewollten Gedanken im Übermass vorzufinden und der Bumerang-Effekt hat sich vollzogen (Jonas, Stroebe & Hewstone, 2014, S. 133). Einfach unterdrücken ist demnach doch nicht so simpel.
Wie können wir Stereotypen reduzieren?
Um Stereotypen und Vorurteile erfolgreich zu reduzieren, müssen gewisse Grundbedingungen vorherrschen. Erstens müssen wir uns bewusst sein, dass die Möglichkeit besteht, dass uns Vorurteile unbewusst beeinflussen. Zweitens müssen wir über genügend Motivation verfügen vorurteilsfrei zu agieren. Dementsprechend gelingt es Personen, denen zum Beispiel Gleichheit wichtig ist, besser dem Einfluss von Stereotypen und Vorurteilen ein Gegengewicht zu geben. Daher ist die intrinsische Motivation grundlegend. Drittens müssen wir über genügend kognitive Kapazität verfügen. Wenn wir nicht genügend Zeit haben oder wir abgelenkt sind, beurteilen wir eine Person, die wir kaum kennen, stärker auf Grundlage von Stereotypen (Roth & Steffens, 2014). Wenn ich mir selbst meinen typischen Alltag vor Augen führe, erkenne ich schnell, dass Zeitstress und Ablenkung stark vertreten sind. Ich behaupte da bin ich bei Weitem nicht die einzige, oder? Unsere Welt prägt uns mit Fortschritt, Innovation, Globalisierung, Reizüberflutung und Überbelastung. Genau diese Elemente verstärken unsere angeborene Tendenz zu stereotypen Haltungen zurückzugreifen. Und genau da sehe ich Handlungsbedarf. Ein wenig Ruhe und eine reflektierte Auseinandersetzung mit sich selbst und dem Umfeld, würde nicht nur einen Beitrag dazu leisten, weniger durch Stereotypen und Vorurteile getrieben zu handeln. Einen Schritt weitergedacht, würde es vor allem den Menschen helfen, welche dadurch Diskriminierung und Stigmatisierung erleben.
Was sind die Konsequenzen?
Durch stereotyp geleitetes Handeln können gewisse Menschen bevorzugt oder benachteiligt werden. Darüber hinaus sind jedoch noch weitere Konsequenzen wichtig zu erläutern. Der Pygmalion-Effekt ist ein psychologisches Phänomen, welches folgendes besagt: Die Erwartungen einer Lehrperson bezüglich der Schulleistungen der Schüler*innen kann durchaus die tatsächlichen Leistungen beeinflussen. Auch wenn die Lehrperson sich neutral zu verhalten meint (Pygmalion-Effekt, o. D.). Als kurzes visualisierendes Beispiel stellen wir uns folgende stereotype Situation vor: Eine Lehrperson hat die Erwartung, dass ein Mädchen im Fach Mathematik schlechter abschneiden wird als ein Junge. Sie verhält sich bewusst oder gar unbewusst entsprechend und dies führt dazu, dass dieses Mädchen tatsächlich schlechtere mathematische Leistungen erzielt, als der Junge. Diesen Effekt kann man über den pädagogischen Kontext hinaus erweitern. „Die selbsterfüllende Prophezeiung“ beschreibt das ähnliche Phänomen. Eine Anfangs falsche Erwartung erfüllt sich, indem sich die Zielperson genau so verhält, wie es von ihrem Gegenüber fälschlicherweise eingeschätzt wurde. (Jonas, Stroebe & Hewstone, 2014, S. 71).
Und was jetzt?
Klar ist, dass Stereotypen an sich nichts Schlechtes sind. Sie helfen uns in unserer reizvollen und komplexen Welt zurecht zu kommen und vereinfachen uns das Leben. Ganz naiv sollte man sich von den eigenen Stereotypen jedoch nicht leiten lassen, denn die Grenze zu Vorurteilen und zur Diskriminierung liegen nahe beieinander. Durch dieses Bewusstsein kann jeder für sich eine reflektierte Haltung einnehmen und seinen Beitrag dazu leisten, unsere Welt von Stigmatisierungen, Ausgrenzungen und Diskriminierung zu befreien.
Deborah Miggiano, Universität Zürich
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Literaturverzeichnis
Macrae, C. N., Bodenhausen, G. V., Milne, A. B., & Jetten, J. (1994). Out of mind but back in sight: Stereotypes on the rebound. Journal of personality and social psychology, 67, 808-817.
Lexikon der Psychologie. (.) Pygmalion-Effekt. Zugriff am 27. Mai 2021, verfügbar unter https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/pygmalion-effekt/12286
Roth, J. & Steffens, M.C. (2014). Stereotype und Vorurteile. In Familien- und Sozialverein des Lesben-und Schwulenverbandes in Deutschland (LSVD) e.V. (Eds.), Homosexualität in der Familie. Ein Handbuch für familienbezogenes Fachpersonal (pp. 25-32). Köln: LSVD.
SRF Einstein. (2017, Januar 20). Vorurteile – Warum uns das Schubladendenken im Griff hat
[Video] YouTube. https://www.youtube.com/watch?v=TZOW5zJm2V8
Wegner, D. M. (1994). Ironic processes of mental control. Psychological Review, 101, 34–52.
Bild : Photo by Samuel Regan-Asante on Unsplash