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Soziale Medien und mentale Gesundheit
Molly ist 14 Jahre alt [1]. Sie leidet unter Depressionen. Im Internet stösst sie auf Content, der die Themen Depression und Suizid thematisiert. Nach dem Konsum unzähliger solcher Inhalte entscheidet sie sich dazu, sich das Leben zu nehmen. Kurz davor soll sie sich erneut Posts zu Depression auf Instagram angeschaut haben. Die Welt steht still. Wie kann das passieren? Und inwiefern hängt ihr Konsum sozialer Medien mit ihrem Tod zusammen?
Diese Geschichte zeichnet ein düsteres Bild sozialer Medien. Algorithmen zeigen, was wir sehen wollen – und immer mehr davon [2]. Die sogenannte Filter-Bubble steht im Zusammenhang mit politischer Polarisierung im Internet [2]. Und auch auf individueller Ebene kann sie polarisieren. Es kann erschreckend einfach sein, dieser Negativspirale zum Opfer zu fallen.
Gefahr aus dem Internet?
Ich liege im Bett und swipe von Insta-Story zu Insta-Story. Ein kurzer Blick auf die Uhr. Mist, eigentlich sollte ich bereits schlafen. Also mache ich, was jeder vernünftige Mensch machen würde. Ich swipe weiter. Nun etwas schneller. Etwas gestresster. Und zwischen Sonnenuntergang-Fotos und Party-Bildern frage ich mich: Was soll das eigentlich?
Mittlerweile werde ich wöchentlich gefragt: „Hast du Insta?“ Man könnte fast das Gefühl haben, ohne Instagram nicht mehr am Puls der Zeit zu sein. Nicht wirklich dabei zu sein. Etwas zu verpassen.
Soziale Medien werden immer häufiger genutzt, besonders unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen [3]. Als ich in einer Schule meinen Zivildienst-Einsatz leistete, habe ich überrascht festgestellt: Kindergärtler telefonieren in der grossen Pause gerne mal spontan mit den Eltern per Smart-Watch. Eine auswendig gelernte Swipe-Abfolge ersetzt dabei fehlende Lese-Kenntnisse.
Es gibt Zusammenhänge zwischen dem Konsum sozialer Medien und kritischen Verhaltensweisen wie beispielsweise Alkoholkonsum [3]. Beunruhigende Erfahrungsberichte junger Erwachsener zeichnen ein gefährliches Bild sozialer Medien [1]. Bedeutet das, der Konsum sozialer Medien ist gefährlich?
Achtung! Ein wichtiger wissenschaftlicher Grundsatz lautet: Korrelation ist nicht gleich Kausalität. Die Tatsache, dass ein Zusammenhang besteht, bedeutet nicht, dass soziale Netzwerke zu Alkoholkonsum führen – oder umgekehrt. Es mag sich aber lohnen, der Sache auf den Grund zu gehen, auch wenn der wahre Zusammenhang komplexer sein mag. Soziale Medien können Teil eines Teufelskreis sein, der auch ausserhalb des Internets stattfindet.
Zum Beispiel: Wer sich sozial ausgeschlossen fühlt, mag sich ins Internet flüchten, wo sie oder er mit all den scheinbar glücklichen Mitmenschen konfrontiert wird – was wiederum zu mehr Stress führt. Ach, die schöne, heile Internet-Welt.
Warum tun wir uns das an?
Die kurze Antwort lautet: Es fühlt sich gut an. Zumindest teilweise. Toll, wenn dieses neue Strandfoto viele Likes erhält, nicht wahr? Im Extremfall machen diese Likes sogar süchtig. Der Begriff „Internet-Sucht“ wurde im Jahr 1996 geprägt [4]. Implizit kognitive Erwartungen, die damit einhergehen, umfassen zum Beispiel Gedanken wie: „Ich bin nur etwas wert, wenn ich im Internet gut ankomme“ [4]. Der Status der Internet-Präsenz wird also auf das ganze Leben übersetzt.
Die Neuropsychologie kann dieses Suchtverhalten erklären. Was Wissenschaftler den Dopamin- Loop nennen, ist schliesslich eine hormonelle Reaktion auf ein bestimmtes Verhalten [4]. Dopamin ist ein Neurotransmitter, welcher unter anderem bei Belohnung eine Rolle spielt [4]. Bilder, die öfters gelikt wurden, lösen eine stärkere Aktivität aus in Hirnregionen, welche mit dem Gefühl der Belohnung einhergehen [5]. Eine soziale Bestätigung in Form von Likes kann also zu einem „Dopamin-Kick“ führen; und dieser kann süchtig machen [4]. Man will mehr. Und mehr.
Die Forschung in der Neuropsychologie geht davon aus, dass das Gehirn plastisch ist, sowohl in Bezug auf die Form als auch auf die Funktion [6]. Das heisst, dass sich unser Gehirn ständig verändert. Wenig überraschend ist es somit, dass auch unser Medienkonsum Spuren hinterlässt. Studien zeigen, dass der häufige Gebrauch sozialer Medien einen Effekt hat auf verschiedene Bereiche des Gehirns [7]. Der stärkste Effekt zeigt sich in Hirnregionen, die für selektive Aufmerksamkeit verantwortlich sind [7]. Das kann ein Hinweis darauf sein, dass der übermässige Gebrauch sozialer Medien es uns erschwert, unsere Aufmerksamkeit für eine längere Zeit zu kanalisieren [7].
Wenn sich Likes gut anfühlen, dann möchte man natürlich besonders jenen Content teilen, der viele Likes generiert. In der Folge ist der Newsfeed voll von scheinbar perfekten Strand-Fotos. Es kann sich also ein sozialer Standard etablieren. Ein Standard, den man natürlich nie erfüllen kann – wer ist schon perfekt? Gerade im zarten Jugendalter spielt das Finden der eigenen Identität und der soziale Vergleich eine zentrale Rolle [5]. Die sozialen Medien könnten dabei wahrlich Öl ins Feuer giessen.
Gibt es eine Lösung?
Vorab: Besteht kein Problem, braucht es auch keine Lösung. Soziale Medien sind nicht grundsätzlich ein Problem. Eine problematische Online-Welt hat vermutlich einen Zusammenhang zu einer problematischen Offline-Welt [2]. Somit lohnt es sich, deiner allgemeinen mentalen Gesundheit auf den Grund zu gehen. Es gibt kurze und gut etablierte Fragebögen bezüglich mentaler Gesundheit [8]. Folgende Fragen (in Bezug auf die letzten zwei Wochen) können dir dabei helfen, deine mentale Gesundheit spontan einzuschätzen [9; Übersetzung des Autors]:
• Schaust du optimistisch in die Zukunft?
• Interessierst du dich für neue Dinge?
• Fühlst du dich gut gelaunt?
• Fühlst du dich geliebt?
[siehe Anhang 1]
Bist du dir in Bezug auf einige Antworten unsicher oder stellst du fest, dass es dir nicht gut geht, such dir Hilfe. Du kannst zum Beispiel direkt hier über https://bewell.help mit einem Profi über deinen Medienkonsum und deine mentale Gesundheit sprechen.
Kritische Social-Media-Nutzung hin oder her, es ist sicherlich sinnvoll, mal eine Pause einzulegen. Oder um ein Schild zu zitieren, welches ich kürzlich in einem Restaurant gesehen habe: „Wir haben kein Internet. Sprecht halt miteinander!“
Du möchtest aktiv etwas in deinem Leben verändern? Sprich mit einem Profi darüber:
Referenzen
[1] https://www.20min.ch/story/molly-russell-14-wurde-opfer-von-social-media-prinz-william- besorgt-551875799859
[2] Bruns, A. (2019). Filter bubble. Internet Policy Review, 8(4).
[3] Alhabash, S., Park, S., Smith, S., Hendriks, H., & Dong, Y. (2022). Social media use and alcohol consumption: a 10-year systematic review. International journal of environmental research and public health, 19(18), 11796.
[4] Macït, H. B., Macït, G., & Güngör, O. (2018). A research on social media addiction and dopamine driven feedback. Mehmet Akif Ersoy Üniversitesi İktisadi ve İdari Bilimler Fakültesi Dergisi, 5(3), 882–897.
[5] Velez, G., & Spencer, M. B. (2018). Phenomenology and intersectionality: Using PVEST as a frame for adolescent identity formation amid intersecting ecological systems of inequality. New directions for child and adolescent development, 2018(161), 75–90.
[6] Kolb, B., & Whishaw, I. Q. (1998). Brain plasticity and behavior. Annual review of psychology, 49(1), 43–64.
[7] Hu, B., Yu, Y., Yan, L. F., Qi, G. Q., Wu, D., Li, Y. T., ... & Wang, W. (2022). Intersubject correlation analysis reveals the plasticity of cerebral functional connectivity in the long‐term use of social media. Human brain mapping, 43(7), 2262–2275.
[8] Tennant, R., Hiller, L., Fishwick, R., Platt, S., Joseph, S., Weich, S., ... & Stewart-Brown, S. (2007). The Warwick-Edinburgh mental well-being scale (WEMWBS): development and UK validation. Health and Quality of life Outcomes, 5(1), 1–13.
[9] Stewart-Brown, S., & Janmohamed, K. (2008). Warwick-Edinburgh mental well-being scale. User guide. Version, 1(10.1037).
Photo by Creative Chris on Unsplash
Anhang 1: Warwick-Edinburgh mental well-being scale
• I’ve been feeling optimistic about the future • I’ve been feeling relaxed
• I’ve had energy to spare
• I’ve been thinking clearly
• I’ve been feeling close to other people
• I’ve been able to make up my own mind about things • I’ve been interested in new things
• I’ve been feeling useful
• I’ve been feeling interested in other people
• I’ve been dealing with problems well
• I’ve been feeling good about myself
• I’ve been feeling confident
• I’ve been feeling loved
• I’ve been feeling cheerful